18.11.2024
25 Jahre Recklinghäuser Tafel: "Wir bekämpfen Armut, nicht Menschen"
„25 Jahre Recklinghäuser Tafel“ – für den Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) Recklinghausen e.V. als Träger der Einrichtung ist das kein Grund zu feiern.
Der Verein lud stattdessen zu einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion ein, die Kreisdechant Karl Kemper nach zweistündigen anregendem Austausch mit den Worten „Wir bekämpfen Armut, nicht Menschen“ schloss. Die über 100 Gäste im Willy-Brandt-Haus stimmten mit Applaus zu.
Auf dem Podium saßen neben Kemper und SkF-Tafelkoordinator Daniel Ruppert auch Markus Leßmann, der als Abteilungsleiter „Soziales“ seinen kurzfristig verhinderten „Chef“ NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann vertrat, außerdem Armutsforscherin Prof. Dr. Silke Tophoven von der Hochschule Düsseldorf und Peter Vorsteher, Landesvorsitzender der Tafel NRW. Moderiert wurde die Diskussion vom ehemaligen Bürgermeister Wolfgang Pantförder.
„Ich bin froh, dass die Stadtgemeinschaft in der Recklinghäuser Tafel so viel Solidarität zeigt“, eröffnete in einem Grußwort sein Nachfolger Christoph Tesche den Abend. „Es darf uns allerdings nicht ruhen lassen, dass eine solche Einrichtung tatsächlich unerlässlich ist. Für ein Land mit unserer Wirtschaftskraft ist es beschämend, dass es eine Tafel überhaupt geben muss.“ Der Staat müsse mehr verlässliche Hilfen anbieten.
Tesche berichtet von seinen zwei Schichten als Helfer in der Tafel. „Was mich beeindruckt ist, wie die Menschen, die auf das Angebot angewiesen sind, nicht als Bittsteller, sondern als Kunden wahrgenommen werden. Es geht fair, gerecht und menschenwürdig zu. Mein Dank gilt nicht nur den Hauptamtlichen des SkF, sondern auch den Menschen, die sich ehrenamtlich für die Tafel engagieren. Sie beweisen, dass unsere Stadt, wenn es darauf ankommt, tatsächlich eine Solidargemeinschaft ist.“
SkF-Vorsitzende Jutta Beeking weiß um die Wichtigkeit des Ehrenamts. „Ohne die rund 100 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer wäre die Recklinghäuser Tafel nicht möglich.“ Auch wenn es sich nicht richtig anhöre, blicke man mit „einem bisschen Stolz“ auf 25 Jahre Recklinghäuser Tafel zurück. Mit ihren Vorstandkolleginnen Dr. Barbara Haase, Elisabeth Lochthowe und Gabriele Bongers stecke sie eine Menge Energie und Zeit in den SkF. „Besonders aber auch Zeit und Ideen in die Tafel, und das machen wir als ehrenamtlicher Vorstand wirklich gerne.“
Tafel-Koordinator Daniel Ruppert berichtete von einer durch den Angriff auf die Ukraine stark gestiegene Kundenzahl, gleichzeitig sinken die Lebensmittel-Spenden durch den Handel. „Die Versorgung der aktuell 2200 auf die Tafel angewiesenen Menschen mit Lebensmitteln ist teilweise eine Quadratur des Kreises.“
Kreisdechant Kemper, Propst der katholischen Pfarrei St. Peter, ist froh, dass die Tafel ein Teil des kirchlichen Hilfsnetzwerks in Recklinghausen ist. „Ganz besonders im Sinn einer gesunden und ausreichenden Ernährung leisten die Tafeln Großartiges.“ Angesicht der bevorstehenden Wahlkämpfe äußerte Kemper einen persönlichen Wunsch, der keinen Cent koste. Über Menschen, die von Armut betroffen seien, solle „respektvoll und wertschätzend“ gesprochen werden. „Wichtige sozialpolitische Themen müssen sachgerecht diskutiert werden, und nicht mit der Neigung zu pauschalisieren, womöglich ausgrenzend oder sogar diffamierend.“ Kemper betonte: „Wir bekämpfen Armut, nicht Menschen.“
Der leitende Pfarrer der Großpfarrei St. Peter kritisierte zuvor eine „Überbürokratie“ und führte dazu aus eigener Erfahrung das NRW-Kinderbildungsgesetz (KiBiz) an. Die zuständige Landesverwaltung LWL schaffe es nicht, die Abrechnungen und Berechnungen „auch nur annähernd zeitnah“ zu erstellen. „Wir kriegen jetzt die Abrechnungen von vor 4, 5 Jahren. Das ist für freie Träger fast wie ein Blindflug.“ Das Verfahren sei zu kompliziert und aufwendig. „Das Land ist der Bürokratie nicht gewachsen, die sie selbst geschaffen hat.“
Peter Vorsteher machte auf eine weitere wichtige Funktion der bundesweit 970 Tafel aufmerksam: „Das System Tafel versucht, dass Familien aus dem Armutskreislauf ausbrechen können.“
Besonders Familien und Alleinerziehende mit Kindern seien häufig von Armut bedroht, berichtete Prof. Dr. Silke Tophoven von der Hochschule Düsseldorf. „Es ist an der Zeit, dass diese Kinder ganz besonders unterstützt werden.“ Die Inhaberin des Lehrstuhls für Sozialpolitik im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften forscht vor allem über Kinder und Jugendliche in Armutslagen. Sie betonte die Bedeutung von Bildung. „Wenn es aus dem Armutskreis einen Weg heraus gibt, dann ist das Bildung.“ Zusätzlich brauchen Kinder und Jugendliche auch Perspektiven und eine Gesellschaft, die sie unterstützen.
Markus Leßmann aus dem NRW-Sozialministerium hatte erst am Mittag erfahren, Karl-Josef Laumann wegen der politischen Situation vertreten zu müssen. Der ehemalige Sozialdezernent der Stadt Baesweiler sowie beim Landkreistag NRW präsentierte sich als Fachmann. Die aktuell geführte Diskussion um staatliche Transferleistungen schätzte er so ein: „Auch wenn wir darum kämpfen müssen, dass Sozialpolitik in der Gesellschaft Rückhalt findet, bin ich zuversichtlich, dass bei den meisten Menschen der Zusammenhalt der Gesellschaft im Vordergrund steht.“